irische Literatur des Mittelalters

irische Literatur des Mittelalters
irische Literatur des Mittelalters
 
»Als reiches, buntes Gemenge schüttet die mittelirische Überlieferung den Inhalt ihres Füllhorns vor uns aus.« Mit diesen Worten beginnt die 1921 erschienene klassische Darstellung »Die irischen Helden- und Königsage« des bedeutenden Keltologen Rudolf Thurneysen.
 
Die ersten zusammenhängenden Aufzeichnungen in irischer Sprache finden sich bereits in Handschriften des 8. bis 11. Jahrhunderts. Neben erklärenden Zusätzen zu lateinischen Texten (Glossen) findet man Erbauungsschriften, Hymnen und Gebete, Heil- und Zaubersprüche sowie Beispiele einer ebenso gefühlvollen wie scharf beobachtenden Naturlyrik. Seit dem 11. und 12. Jahrhundert dokumentieren dann große Sammelhandschriften wie das »Buch der dunklen Kuh« (»Lebor na h-uidre«) und das »Buch von Leinster« (»Lebor Laignech«) die ganze Vielfalt der irischen Überlieferung.
 
Ein beherrschendes Thema der erzählenden Literatur ist die Geschichte Irlands. Dementsprechend zahlreich sind historische Texte, die allerdings neben geschichtlich verbürgten Ereignissen vielfach auch myhtische sowie sagen- und märchenhafte Überlieferungen verarbeiten. Häufig sind berühmte Könige die Protagonisten dieser Erzählungen, die meist in der Zeit vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 11. Jahrhundert n. Chr. spielen. Erwähnt seien die Könige Cormac mac Airt, den die mittelirische Überlieferung als idealen Herrscher feiert, und Mongán mac Fiachna, der in einigen Sagen als Sohn des Meeresgottes Manannán mac Lir gilt. Eine umfassende Geschichte Irlands und der Iren von der Schöpfung bis ins Mittelalter bietet das »Buch von der Einnahme Irlands« (»Lebor Gabála Érenn«).
 
Von den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den sagenumwobenen Königreichen von Ulster und Connacht berichtet ein Kranz von Erzählungen, die in der Zeit um Christi Geburt spielen. Die längste und bedeutendste von ihnen ist die »Geschichte des Rinderraubs von Cooley« (»Táin Bó Cuailnge«). Sie erzählt, wie das Königspaar Ailill und Medb von Connacht mit einem großen Heeresaufgebot nach Ulster zieht, um dort den berühmten Stier Donn Cuailnge zu erbeuten. Der eigentliche Held der Geschichte ist der jugendliche Cú Chulainn, der die einfallenden Feinde immer wieder in verlustreiche Kämpfe verwickelt, bis sie schließlich auf dem Rückzug eine verheerende Niederlage erleiden. Ein weiterer Sagenkreis schildert die Jagdabenteuer und Heldentaten einer verschworenen Gemeinschaft herausragender Krieger, der Fianna, die im 3. Jahrhundert n. Chr. auf der Seite des bereits erwähnten Königs Cormac mac Airt gekämpft haben sollen. Ihr Anführer Finn mac Cumaill und sein Sohn Oisín gehörten seit dem späten Mittelalter zu den beliebtesten Sagenhelden Irlands und Schottlands. Sie erscheinen als der schottische König Fingal und der Dichter Ossian in den von James Macpherson veröffentlichten »Werken Ossians« aus dem 18. Jahrhundert.
 
Eine wichtige Rolle spielen daneben Erzählungen, in denen nicht sterbliche Menschen, sondern Elfen und Feen (irisch »síde«) im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Ihre Wohnungen vermutete man auf Inseln jenseits des Meeres sowie in den künstlich aufgeschütteten Grabhügeln der vorkeltischen Bevölkerung Irlands. Von abenteuerlichen Seereisen jenseits der von Menschen bewohnten Gegenden erzählt das Genre der »immrama«, der wunderbaren Seereise (irisch »immram« = Umherrudern ), dem auch die im Mittelalter über ganz Europa verbreitete Sage von der Seefahrt des heiligen Brendan angehört. Von hohem kulturgeschichtlichen Interesse sind auch die Rechtstexte, die grammatischen und metrischen Abhandlungen, die gnomische und didaktische Literatur sowie die geistliche und weltliche Lyrik.
 
In der Vergangenheit konzentrierten sich die Bemühungen der Forschung nicht selten weniger auf die Texte selbst als vielmehr auf die darin vermutete vorliterarische Überlieferung, aus der man Auskunft über die keltischen oder sogar indogermanischen Grundlagen der irischen Kultur zu gewinnen hoffte. Dabei führten überzogene Vorstellungen vom Anteil der mündlichen Überlieferung und die Vernachlässigung des mittelalterlich-christlichen Umfelds häufig zu Fehleinschätzungen, die man zum Teil erst heute wieder abzubauen beginnt. So gelten zum Beispiel die Erzählungen um den Helden Cú Chulainn heute kaum mehr als getreues Spiegelbild vorchristlicher Verhältnisse, und auch im Bereich der Rechtsliteratur stellt man heute in zunehmendem Maße kirchlichen Einfluss in Rechnung. Darüber hinaus hat sich ganz allgemein die Auffassung durchgesetzt, dass geistliche und weltliche Literatur, irische und lateinische Texte eine Einheit bilden, die zunächst einmal aus den Bedingungen der mittelalterlichen Klosterkultur zu verstehen ist. Gleichwohl bewahrt die mittelirische Literatur eine Fülle altertümlicher Züge, Stoffe und Motive, von denen manche sogar bis in die vorindogermanische Vergangenheit Westeuropas zurückreichen dürften. Die hohe Bedeutung der inselkeltischen Literaturen für die abendländische Kultur beginnt sich erst heute abzuzeichnen. Ihre Integration in das gesamteuropäische Bildungsgut und Kulturbewusstsein bleibt eine Aufgabe der Zukunft.
 
Dr. Bernhard Maier
 
 
Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, herausgegeben von Klaus von See. Band 6: Europäisches Frühmittelalter. Band 7: Europäisches Hochmittelalter. Wiesbaden 1978—85.

Universal-Lexikon. 2012.

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